The Future Is… Gedanken zum Film “NO HARD FEELINGS/FUTUR DREI”

Newsletterinput #7 vom 26. November 2020
 
“Ich glaube ich bin viele Dinge”, erklärt Parvis den Geschwistern Banafshe und Amon in den frühen Morgenstunden nach einer durchfeierten Nacht. Die drei neu gewonnenen Freund*innen liegen auf einem Parkplatz irgendwo in der niedersächsischen Provinz und teilen Fragmente ihrer Vergangenheit und Identität. “Wie gut, dass du dich nicht entscheiden musst”, antwortet ihm Amon kurzerhand und rückt Parvis’ Lebensrealität somit in ein völlig neues Licht (Futur Drei Trailer Deutsch – YouTube).
 
Dieser einprägsame Wortwechsel der beiden Protagonisten könnte als Bezugspunkt für viele weitere Dialoge in Faraz Shariats semiautobiografischem Debütfilm “NO HARD FEELINGS/FUTUR DREI” gelten. Denn auf kunstvolle und sensible Weise schafft der Film etwas, was ähnlichen Genre-Vertretern der deutschen Kinolandschaft sonst nur selten bis gar nicht gelingt: die Darstellung komplexer Identitäten, jenseits von problematischen Klischees und mit einem feinen Gespür für intersektionale Erzählstrukturen. 
Statt gängige Machtverhältnisse zu reproduzieren erschafft der Film in gewisser Weise eine eigene Sprachform – das “Futur Drei”, um dem Ausdruck zu verleihen, was schon längst Realität ist, aber bisher doch oft falsch erzählt wurde (Faraz Shariat in “Futur Drei oder wie man die Filmwelt aufmischt”, Folge 8 des BBQ Podcasts – Spotify).
 
Hier geht es in erster Linie nicht um das, was mal war, um Traumata oder Mitleidsbekenntnisse, sondern darum, was ist und was kommt. Die Schnittstelle zwischen Migration und Queerness wird nicht als Widerspruch angesehen, sondern von den Protagonist*innen als kompromisslose Einheit verkörpert, so unterschiedlich und komplex wie die Figuren selbst. 
Die Charaktere sehen sich in gewisser Weise durch ihre eigenen Augen und die ihrer Community und eben nicht durch die weiße Brille der westlichen Filmindustrie, und schaffen es dennoch immer wieder eine Verbindung zu den Zuschauenden aufzubauen. 
Dies gelingt jedoch nur so gut durch die eigenen Erfahrungshorizonte der Filmschaffenden sowie die brillante Vorbereitungs- und Recherchearbeit. Von den halb-biografischen Ansätzen des Regisseurs ausgehend, werden verschiedenste Geschichten, Aspekte und Erfahrungen von Migration, Identität, Gender und Queerness  zu einer multidimensionalen Erzählung verwoben. Somit entsteht eine Art “Archiv” verschiedener Diaspora-Erfahrungen in Deutschland (Paulina Lorenz in “Interview with Raquel Molt, Paulina Lorenz and Faraz Shariat on ‚FUTUR DREI’” – YouTube).
 
Dabei war die Besetzung der Rollen eine wichtige Komponente des Entstehungsprozesses. Den Filmschaffenden war es wichtig, dass queere Figuren ausschließlich von queeren Schauspieler*innen verkörpert werden und bis auf einige Nebencharaktere ausschließlich BIPoC für einen Großteil der Rollen gecastet werden.
 
Shariats eigene Eltern übernahmen den Part der Eltern des Hauptcharakters Parvis, die mit ihrer Geschichte gleichwohl die erste Generation iranischer Migrant*innen repräsentieren. 
Um den Darsteller*innen die Möglichkeit zu geben, die Repräsentation ihrer Figuren mitzugestalten, richtete das Produktionsteam in Vorbereitung auf die Dreharbeiten eine Art “Akademie” ein, um die Ansätze für die Umsetzung gemeinsam mit den (z.T. Laien-) Schauspieler*innen zu entwickeln (Raquel Molt in “Interview with Raquel Molt, Paulina Lorenz and Faraz Shariat on ‚FUTUR DREI’” – YouTube).
 
Die Herangehensweise der Filmschaffenden zeigt einmal mehr, wie wichtig ein tiefes Verständnis von Macht- und Diskriminierungsstrukturen nicht nur vor, sondern auch hinter der Kamera ist, um gängige Kino-Klischees aufzubrechen und zu beseitigen. Das Ausbleiben von Mikroaggressionen am Set sei sehr heilsam gewesen, unterstreicht Hauptdarstellerin Banafshe Hourmazdi in einem Interview, und habe ihr geholfen noch mehr Offenheit in ihrem Spiel zuzulassen (Banafshe Hourmazdi in “Futur Drei oder wie man die Filmwelt aufmischt”, Folge 8 des BBQ Podcasts – Spotify).
Vom Home-Movie-Segment der ersten Szene bis zum Sailor Moon Titelsong im Abspann lädt der Film auf eine utopische Gedankenreise in die Zukunft ein und findet gleichzeitig eine ausdrucksvolle Bildsprache für eine längst geformte Realität, die von der Mehrheitsgesellschaft und der Medienlandschaft gerne noch übersehen wird.