Rede zum Tag gegen patriarchale Gewalt 2021

Vorab: wenn wir über patriarchale Gewalt reden, ist es wichtig, sprachlich die Vielfalt menschlicher Existenz nicht zu verschleiern: es gibt eben nicht nur Männer und Frauen als unveränderliche Kategorien. Doch es ist auch notwendig, die gesellschaftlichen Zustände nicht zu verschleiern: patriarchale Gewalt ist nur zu verstehen innerhalb eines gedanklichen Systems, das auf diese starre Zweiteilung basiert. Deswegen werde ich in diesem Redebeitrag von „Jungen und Männern“ und von „männlicher Gewalt“ als Konzept reden. 
 
2021 wurden in Deutschland 103 Frauen, 20 Kinder und 4 Männer von Ehemännern, (Ex-)Partnern, Vätern, Söhnen, Brüdern, Nachbarn etc. getötet. Rund 25 % der in Deutschland lebenden Frauen haben Formen körperlicher oder sexualisierter Gewalt (oder beides) durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner erlebt, und 58 % aller Frauen haben unterschiedliche Formen von sexueller Belästigung erlebt. Am internationalen Tag gegen patriarchale Gewalt machen wir auf diese Gewalt aufmerksam, die allgegenwärtig und doch fast unsichtbar ist. 
Was ist es, das diese Gewalt, außerhalb der harten Zahlen, so schwer zu greifen macht? 
Männliche Gewalt in ihrer weniger extremen Ausprägung wird als natürlich betrachtet, während gleichzeitig ihre Extremformen wie Femizid zu Ausnahmeakten von im Kern bösen oder psychisch kranken Einzeltätern verklärt werden. Dabei ist es in Wahrheit so: zwischen „harmlosen“ Formen alltäglicher Gewalt und ihren brutalsten Auswüchsen besteht ein direkter Zusammenhang. Sie befinden sich lediglich an verschiedenen Stellen desselben Spektrums. 
 
Die Feministin bell hooks spricht sich in Die Wurzeln männlicher Gewalt gegen die Sicht von männlicher Gewalt als psychische Störung aus, und für das Verständnis als Teil der normalen Erziehung und Sozialisierung von Jungen und Männern. Nach ihrer Auffassung ist es notwendig, auf die Ursprünge der Gewalt zu schauen, um gegen sie handeln zu können. 
 
Ihre Analyse beginnt mit männlichem Schmerz. In ihrem Buch The Will to Change erzählt bell hooks, wie sie im Austausch mit vielen Menschen feststellte, dass nicht nur Frauen Angst vor Männern haben: auch Männer haben Angst vor Männern. Männlichkeit ist ein Regime, das alle unterdrückt, inklusive der Männer selbst. Männer wollen sich sicher fühlen, sehnen sich nach Liebe, nach Geborgenheit und Rückhalt. Doch im Patriarchat wird ihnen nur eine Emotion zugestanden: Wut. Diese Wut versperrt den Zugang zu allen anderen Gefühlen. Angst, Trauer, doch auch positive Emotionen wie Zuneigung, dürfen nicht ausgedrückt und am besten auch gar nicht gefühlt werden. Im Patriarchat haben Männer nur insoweit Wert, wie sie leisten, schaffen, machen. Sie dürfen nicht einfach nur sein. 
Diese unausgesprochenen Regeln des Patriarchats werden Jungen schon in der Erziehung mitgegeben. Der erste Gewaltakt, den das Patriarchat von Jungen fordert, ist ein Akt von psychischer Selbstverletzung. Sie sind gezwungen, die emotionalen Anteile ihres Selbst abzutöten. Tut der Junge es nicht selbst, greifen soziale Kontrollsysteme, um ihn dazu zu zwingen. Eltern, Lehrer, Autoritätsfiguren, aber auch Spiel- und Klassenkameraden, Fernsehprogramme und Jugendbücher, verhindern die emotionale Entwicklung von Jungen. Sie vermitteln ihnen als Werte Schmerzlosigkeit, Unterdrückung von normalen Trauergefühlen, und Problemlösung durch Gewaltausübung. Äußerungen wie „Jungs weinen nicht“ vermitteln dem Kind ein klares Bild dessen, was er zu sein hat. Bell hooks spricht von der „normalen Traumatisierung“ von Jungen: die schmerzhaften Erfahrungen, die ihnen beibringen, ihre Gefühle zu verstecken und nach dem Patriarchat zu leben.
Das Patriarchat ist ein System, das Männer krank macht. Wir können hier unterscheiden zwischen dem materiellen und dem psychologischen Patriarchat. Das materielle Patriarchat bezeichnet den gesellschaftlichen Zustand, dass ein Großteil des weltweiten Wohlstandes und der politischen Macht in Männerhänden liegt. Das psychologische Patriarchat bezeichnet die Dynamik zwischen sogenannten „männlichen“ und „weiblichen“ Eigenschaften: die ersten werden aufgewertet, die anderen abgewertet, und echte zwischenmenschliche Verbindungen werden ersetzt mit Dominanz und Unterdrückung. In diesem System lernen Männer nicht, richtig zu lieben. Das stellen Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen in der Arbeit mit Tätern fest: oft verstehen diese nicht, warum ihre Taten falsch waren.  Sie verwechseln Gewalt und Missbrauch mit Liebe, weil sie nicht besser zu lieben wissen, und sehen nichts falsches daran, weil sie in einer Welt aufgewachsen sind, in der diese Gewalt und dieser Missbrauch normal sind. Auch wenn männliche Gewalttäter aufgrund ihrer Sozialisierung nur Gewalt als Ausdrucksmittel kennen, heißt das nicht, dass sie keine andere Wahl haben. Eine Veränderung des Verhaltens muss sowohl zwischen Menschen, als auch in jedem Mann selbst stattfinden. Jeder Mann muss sich mit seiner Männlichkeit auseinandersetzen und gewaltvolle Anteile auflösen lernen.
 
Wir Feminist*innen sind wütend und traurig über die Gewalt, die wir und unsere geliebten Personen im Alltag erleben. Wir gedenken in lauter, wütender Trauer der Opfer männlicher Gewalt. Doch wenn wir tatsächliche Veränderung wollen, müssen wir auf die Wurzeln der Gewalt schauen. Wir müssen Wege finden, dieses System zu durchbrechen, das krank macht und tötet. 
Wir müssen die Erziehung von Jungen umdenken. Wir müssen den Schmerz von Männern ernst nehmen, ihre Beweggründe verstehen. Wir müssen den Raum für Gespräch und Austausch bieten. Wir müssen Emotionen zulassen, gute wie schlechte. Männer, die sich gegen Gewalt entscheiden, haben es besonders schwer. Sie entscheiden sich gleichzeitig gegen das Patriarchat. Sie brauchen Rückhalt und Liebe. 
Feministische Theorie ist noch auf der Suche nach einem positiven Modell alternativer Männlichkeit. Vorbilder für Männer, die einen anderen Weg gehen möchten, werden dringend gebraucht. 
 
Ich schließe ab mit einem Zitat von bell hooks: Männer können sich nicht verändern, wenn es keine Blaupause für Veränderung gibt. Männer können nicht lieben, wenn ihnen die Kunst des Liebens nicht beigebracht wird.