Männer? Männlichkeit… Männlichkeitskritik!

Newsletterinput #17 vom 01. September 2021
 
1: Kleine Theorieeinführung
I. Männlichkeit
Quelle:
‘Männerforschung und Männerbewegung aus Frauensicht’
12. September 2012 von Birgit Meyer
Heinrich Böll Stiftung
 
In ihrem 1995 erschienenen Buch „Masculinities“ entwirft Connell eine an der feministischen Gesellschaftskritik angelehnte „Soziologie der Männlichkeit“. […] Im Unterschied zur Theorie des Patriarchats, in der alle gesellschaftliche Macht von Männern über Frauen ausgeübt wird, kann die Theorie der „hegemonialen(=vorherrschaftlichen) Männlichkeit“ historische und kulturelle Wandlungsprozesse und Widersprüche […] erfassen. […] Connell stellt Männlichkeit bzw. Männlichkeiten als DAS zentrale Leitbild in kapitalistischen Gesellschaften und Institutionen heraus. Sie unterscheidet in hegemoniale Männlichkeiten, komplizenhafte Männlichkeiten und marginalisierte/unterdrückte Männlichkeiten, wobei erstere vor allem der traditionellen Männlichkeit als Versorger, Ernährer, Beschützer entsprechen (und im Zweifelsfall die Rolle des Gewalttäters darstellen).
 
In kapitalistischen Industriegesellschaften steht die gesamte Politik und Ökonomie unter strukturellem Wettbewerbszwang. Dieses aggressive Höher, Weiter, Besser, Erfolgreicher, Kostensparender beruht auf frühkapitalistischen Verdrängungs- und Effektivitätsvorstellungen. Rücksichtsloses Wachstum und enthemmtes Profitstreben sind strukturell darwinistisch und den Schwächeren ausschließend, also tendenziell unsolidarisch. Sie bilden den Hintergrund einer Frauen-ausschließenden Ökonomie.
Auf dem Arbeitsmarkt werden im Sinne hegemonialer Männlichkeit stereotyp männliche Eigenschaften wie Härte, Risiko-Bereitschaft und eine ‚Ellenbogenmentalität’ gefragt. 
 
Ausgehend von dem Paradoxon, dass Männer einerseits weltweit kollektiv Privilegierte seien, aber individuell durchaus mit großen persönlichen Unsicherheiten und auch Verlusten umgehen müssen – sei es auf dem Arbeitsmarkt oder im Privatleben – entwickelt sie ihre Theorie der „hegemonialen Männlichkeit“: „Die meisten Männer fühlen sich nicht privilegiert. Und die meisten Männer fühlen sich nicht besonders mächtig – oder sie fühlen sich nur mächtig in der Phantasie, beim Konsum von Pornographie, als Zuschauer eines Motorrennens oder beim Videospiel.“ Die „hegemoniale Männlichkeit“ bedeutet eine sich stets wandelnde Rechtfertigung von männlicher Dominanz und (meist) weiblicher Unterordnung, genauer müsste es heißen: Die Dominanz von heterosexuellen und institutionell bzw. finanziell abgesicherten Männern über alle anderen Gruppen: marginalisierte und randständige Männer sowie Frauen.
 
Die Dynamik solcher Dominanz und Unterordnungsprozesse wird – nach Connell – durch Gewalt abgesichert: „Die meisten Gewalthandlungen […] finden zwischen Männern statt. In Gruppenkonflikten kann Gewalt dazu dienen, sich der eigenen Männlichkeit zu versichern oder diese zu demonstrieren.“
In Zeiten wachsender Verunsicherung und gesellschaftlicher Umbrüche, – sei es durch Finanzkrisen, Terrorwarnungen, Bedrohungen durch Umweltkatastrophen oder schlicht durch höhere Trennungsraten – müssen diese verarbeitet werden. Dass hier Ängste und Sicherheitsbedürfnisse wachsen, ebenso wie Abwertungstendenzen gegenüber „den Anderen“ (insbes. Frauen, Migrant:innen, behinderten Menschen, älteren Generationen) steht nicht nur zu befürchten, sondern lässt sich empirisch belegen.
 
II: Warum Kritische Männlichkeit?
Quelle: kritische-maennlichkeit.de/
Bei vielen Versuchen, eine ‘neue, positive Männlichkeit’ zu schaffen, wird das grundlegende Konstrukt von Männlichkeit und dessen Herrschaft nicht angegangen, sondern eher ein Image-Wechsel betrieben, z.B. Images wie der ‘softe’ Agentur-Mann, der ‘ich habe meine Fingernägel lackiert, deshalb bin ich frei von Sexismus’ -Mann, etc. entstehen. Dabei bleibt oft die Abgrenzung zur Weiblichkeit bestehen und oft geschieht auch eine Abgrenzung zu vermeintlich ‘schlechten Männern’.
Es ist wichtig zu erkennen, dass ALLE Teil des Systems sind und Männlichkeit in allen männlich sozialisierten Menschen steckt (und auch weiblich sozialisierten Menschen Männlichkeit vermittelt und so verinnerlicht wird). Es sollten sich alle Männer oder Menschen, die männlich sozialisiert (also aufgewachsen) sind, mit ihrem Stand in der Gesellschaft auseinandersetzen, um sich von der (hegemonialen) Männlichkeit befreien zu können. 
Es sollte keinen universellen Standard geben, was jetzt ‘gute Männlichkeit’ sei, da verschiedene Männer & Männlichkeiten sich in verschiedenen Milieus bewegen und dadurch stark verschiedene Möglichkeiten bieten sich von der (hegemonialen) Männlichkeit zu lösen. Z.B. hat ein weißer Student viel mehr Ressourcen, als ein Lohnarbeiter mit Migrationshintergrund.
Praktisch kann das z.B. in Gesprächsrunden passieren, ob privat oder organisiert.
Wichtig ist sich bewusst zu sein, dass das kein individueller Prozess ist. Wer ‘weiter reflektiert’ ist, sollte anderen helfen sich zu reflektieren. Wir schaffen das nur gemeinsam!
 
Allgemein ist ein Hinarbeiten auf eine andere Gesellschaft, in welcher die “männlichen” Eigenschaften nicht erforderlich, geschweige denn erfolgreich sind, auf ökonomischer wie kultureller Ebene erstrebenswert.
Problem ist: das ist kein massentauglicher Ansatz. Die meisten Menschen werden sich nicht aus freien Stücken reflektieren, außerdem haben viele einfach keine Zeit dafür. Deshalb sollten sich politisch bewusste Menschen aufraffen in diese Auseinandersetzung zu gehen und daraus sich ergebende Dinge in alle Bereiche der Gesellschaft zu tragen. Das sollte nicht immer wieder Aufgabe von FLINTA* sein.
 
Hier ein paar Denkanstöße:
– Wie wirkt sich mein (gelesenes) Geschlecht auf meine Position in der Gesellschaft aus?
– Wo verspüre ich im Alltag oder im Leben den Druck ‘männlich’/’weiblich’ etc. zu sein? Wie leide ich darunter? Was würde ich mir wünschen, was anders wäre?
– Habe ich manchmal sexistische Gedanken, oder allgemein stark abwertende Gefühle gegenüber vermeintlich ‘schwächeren’ Gruppen? Wie drücken sich diese aus?
– Kann ich mir eine Identität ohne Männlichkeitsideale vorstellen?
 
Mehr Übungen und Aufgaben gibt es hier: 
profeministischeakademie.blogsport.de/material/