Gender & Design: alltägliche Auswirkungen

Newsletterinput #4 vom 28. August 2020
 
Um zu verstehen, wie Gestaltung unsere Gesellschaft beeinflusst und wie sie in diesem Zusammenhang die Konstruktion von Geschlechtern und Rollenbildern fördert und festigt, müssen wir zunächst erkennen, in welchen Situationen uns Design überhaupt begegnet. Als geläufigste Berührungspunkte sind uns dabei sicherlich TV-Werbespots, Werbeplakate oder Produktverpackungen bekannt. Dass Design aber außer Plakaten, die wir in der Stadt sehen, oder Kleidung die wir tragen, auch die Höhe der Tasten in einem Fahrstuhl, die Sprachsteuerung eines Autos und die Raumtemperatur großer Büros bestimmt, mag zunächst überraschend erscheinen. Gestaltung beeinflusst somit ohne, dass wir es bewusst wahrnehmen nicht nur, ob wir uns aufgrund einer ansprechenden Verpackung für ein bestimmtes Produkt entscheiden, sondern entscheidet auch, mit welcher Wahrscheinlichkeit wir bei einem Autounfall sterben oder ob wir als Pianist*innen Chancen auf Erfolg haben. So fällt Frauen* erwiesenermaßen das Klavierspielen im professionellen Bereich deutlich schwerer als ihren männlichen* Kollegen, weil die durchschnittliche Handspannweite einer Frau* zwischen 17,8 und 20,3cm beträgt, während die Oktaven einer durchschnittlichen Klaviatur mit einer Breite von 18,8cm für Hände in dieser Größe schlicht ungeeignet sind. Erst 1998, als dem Pianisten Christopher Donison, dessen Hände unterdurchschnittlich klein für einen Mann waren, auffiel, dass ihn die Standartklaviatur benachteiligte, erfand er die Klaviatur 7/8 DS, die Menschen mit kleinen Händen das Greifen der Akkorde erleichterte. Allerdings fand seine Erfindung in der männlich* dominierten Pianist*innenszene nur begrenzt anklang 1.
Das geschilderte Szenario ist nur ein Beispiel für eine ganze Reihe von Situationen, in denen Frauen*, übrigens genau so wie Menschen mit Behinderung, PoC, Inter* und LSBTI*, durch standardisiertes Design systematisch exkludiert und benachteiligt werden. Gestaltung, die nach dem Prinzip „eine Männergröße für alle Menschen“ versucht, Produkte einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen, vergisst dabei schlichtweg den Umstand, dass der durchschnittliche Mann nicht dem durchschnittlichen Menschen entspricht und führt stets dazu, dass das Produkt für einen großen Teil der Menschheit, der diesem konstruierten Durchschnitt nicht entspricht, unzugänglich wird. Diese Unzugänglichkeit äußert sich manchmal in Handys, die in der Hosentasche einer „Damenhose“ keinen Platz finden und sorgt dafür, dass Menschen, die ebensolche Hosen bevorzugen zusätzlich zu einer Handtasche greifen müssen. In anderen Fällen kann die Benachteiligung zur Lebensgefahr werden, wenn Anschnallgurte und Airbags eines Autos den Körperbau und die Gewichtsverteilung einer Frau* nicht berücksichtigen, weil es keine Crashtestdummies mit entsprechenden Maßen gibt. In jedem Fall ist Design als gestaltende Disziplin „grundlegend an der Verbreitung und Verfestigung von Normalitätskonstrukten beteiligt“ und erschafft in diesem Sinne vor allem „mehrheitsorientierte und somit […] exkludierende Produktwelten“ 2, die im besten Fall zu Vorurteilen und Geschlechterstereotypen führen und im schlimmsten Fall tödliche Konsequenzen haben.
Doch obwohl die offensichtlichen Missstände bereits seit den 1980er Jahren zunehmend ins Bewusstsein der männlich* dominierten Designwelt rücken, beschränken sich Versuche gleichberechtigenden Designs hauptsächlich auf die Methode „Pinking and Shrinking“. Dabei wird ein bestehendes Produkt durch eine rosa oder violette Färbung und das Schrumpfen auf das vermeintlich weibliche* Körpermaß minimal verändert, um auf diese Weise auch eine weibliche* Zielgruppe anzusprechen 3. Dass diese Methode den beschriebenen Problemen in keiner Weise entgegenwirkt, sondern mit größerer Wahrscheinlichkeit zur Festigung bestehender Vorurteile führt, scheint dabei für die Gestaltenden eine untergeordnete Rolle zu spielen, falls sie ihren Fehler mangels persönlicher Betroffenheit überhaupt bemerken.
Sieht man sich an dieser Stelle nämlich in der Designbranche um, finden sich in den meisten einflussreichen Positionen, wie in vielen anderen Berufen auch, hauptsächlich weiße Männer*, die körperlich und geistig der gängigen Norm entsprechen.
Ob ein Design tatsächlich für alle Nutzer*innen gleichermaßen zugänglich ist, bestehende Rollenbilder dekonstruiert oder zumindest nicht unterstützt und in der Nutzung für alle Menschen gleichermaßen sicher ist, kann ein Team, das ausschließlich oder hauptsächlich aus männlichen* Designern besteht, schlichtweg nicht ausreichend beurteilen. Damit Design einem gendergerechten und inklusiven Anspruch gerecht werden kann, müssen also Frauen* bzw. FLINT* an der Gestaltung von Alltagsgegenständen maßgeblich beteiligt sein. Design, das für alle Menschen funktionieren soll und das auf eine Dekonstruktion von diskriminierenden Rollenbildern und exklusiven Normalitätskonstrukten abzielt, muss, um diesem Anspruch gerecht werden zu können, immer von einem diversen Team gestaltet werden. Alle Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse sollten sich dabei ganz nach dem Leitspruch „Nothing about us, without us!“ 4 richten. 
Die problematische Überzahl männlicher* Akteure in entscheidenden Designprozessen, die sich besonders in den Bereichen des Produkt-, Grafik- und Motiondesign, aber auch in der Architektur beobachten lässt, spiegelt übrigens Missstände wieder, mit denen bereits die Frauen* am Bauhaus zu kämpfen hatten. Da es an der Kunstgewerbeschule nicht vorgesehen war, alle Klassen zur Hälfte mit Schülerinnen* zu besetzen, wurde ein Großteil der Frauen*, die sich um Aufnahme an der Kunstgewerbeschule beworben hatten, sofort in die Textilklasse überführt, zu der sich Oskar Schlemmer sich mit den Worten „Wo Wolle ist, ist auch ein Weib, das webt, und sei es nur zum Zeitverteib“ nur spöttisch äußerte.
Bis heute zeigen sich die Auswirkungen in der Designbranche, in der lediglich im Modedesign Frauen* eine führende Rolle spielen. 
Dabei ist das Geschlechterverhältnis an den Gestaltungshochschulen eigentlich noch verhältnismäßig ausgeglichen, häufig sind weibliche* Studierende hier sogar in der Überzahl. Trotzdem schaffen es nur wenige junge Designer*innen nach dem Studium, sich in der männlich dominierten Branche einen Namen zu machen und auch die Lehrstühle bleiben trotz stetig  nachrückender Generationen junger Lehrbeauftragter überwiegend männlich* besetzt. 
Um den folgereichen Mangel an Beteiligung von FLINT* Personen an Designprozessen auszugleichen, ist es deshalb wichtig, dass Universitäten, Stiftungen und Gestaltungsagenturen gezielt Frauen*, Transpersonen und Inter* ermutigen und durch Fördergelder, Kinderbetreuung oder Rhetorikworkshops unterstützen. Die Perspektive von FLINT* darf im Design von Alltagsgegenständen nicht länger übergangen werden, weshalb es dringend notwendig ist, dass Diversität auf allen Ebenen von Gestaltungs- und Designprozessen ihre bislang unterschätzte Priorität beigemessen wird.
 
 
 
Quellen und weitere Infos:
1 vgl.  Caroline Criado-Perez, Unsichtbare Frauen
2  Tom Bieling, Inklusion als Entwurf, S.36
3 vgl. Jonas Aaron Lecointe, Form Ausgabe 287, S.112
4 Tom Bieling, Inklusion als Entwurf, S.19
Empfehlungen zur Vertiefung: „Gender Design–Streifzüge zwischen Theorie und Empirie„ von Uta Brandes, „Inklusion als Entwurf“ von Tom Bieling (Über die Konstruktion von Behinderung durch Design)