Eine feministische Geschichte der Geschlechtertheorien

Newsletterinput #28 vom 06. August 2022
 

Dieser Input ist die Vertextlichung eines Vortrags, den wir beim Vegan-Brunch der Animal Liberation Trier halten durften.

 
Im heutigen Diskurs ist die Definition von Geschlecht polarisierend.
Alice Schwarzer und ihre Freund:innen hätten es gerne leicht: biologisches Geschlecht als unveränderlich und wertneutral, sozial konstruiertes Gender als Rollenzuschreibung, die es zu überwinden gilt. Diese Sicht ist aber nicht nur vereinfacht, sondern birgt auch erstaunlich wenig emanzipatorisches Potential. Lasst uns doch zurückspulen und angucken, wie sich feministische Geschlechtertheorien entwickelt haben.
 
Der allgemeine Konsens im 19. und frühen 20. Jahrhundert war das, was heute biologischer Determinismus genannt wird. Nämlich die Idee, dass alle Unterschiede, die zwischen Männern und Frauen feststellbar sind, auf biologische Tatsachen zurückzuführen seien. Zum Beispiel konnte jede:r sehen, dass Frauen im Hause blieben und sich um ihre Kinder kümmerten, während Männer berufstätig waren und sich in die Politik einbrachten. Das war dann für die damaligen Theorien der eindeutige Beweis, dass Frauen offensichtlich von Natur aus dafür gedacht sein müssen, im Haus zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern. Das wiederum war die Grundlage, auf der Frauen Grundrechte wie das Wahlrecht abgesprochen wurde. Wer biologisch nicht für die Politik gedacht ist, braucht ja auch nicht zu wählen.
 
Dann kam (unter Anderen) Simone de Beauvoir daher und zeigte auf, dass hier Ursache und Wirkung vertauscht wurden. Frauen wurden eben gezwungen, im Haus zu bleiben! Frauen hatten gar keine Wahl, als der Politik fernzubleiben! Und dieser Umstand wurde dann zur naturgegebenen Tatsache verklärt und als Argument benutzt, ihnen diese Zwänge weiterhin aufzulegen!
Eine wichtige feministische Erkenntnis der sogenannten 2. Welle war also, dass viele Aspekte von Geschlecht weniger mit Biologie zu tun haben, und viel mehr mit Gesellschaft und Kultur, eben Dinge die gelernt und daher wieder verlernbar sind. Feministinnen der 2. Welle sprachen von einem „Sex/Gender-System“: Sex (biologisches Geschlecht) sahen sie als Grundgerüst, als Hardware, auf der die Software Gender laufen konnte. Für die befreite Gesellschaft galt es, Gender abzuschaffen.
 
Die 3. Welle des Feminismus, die in den 80er Jahren anfing und in den 90ern Fahrt aufnahm, hatte da aber einige kritischen Anmerkungen.
Biologisches Geschlecht ist nämlich nicht so sehr von der Natur vorgegeben, als von unserer Interpretation dessen, was wir in der Natur wahrnehmen. Da sind verschiedene körperliche Merkmale, die oft, aber nicht immer, gemeinsam auftreten, und die fassen wir als Geschlechtsmerkmale zusammen und basieren darauf unsere Zweiteilung der Menschheit. Bei dieser Zweiteilung fallen eine ganze Menge Menschen durch die Lücken (Stichwort: intergeschlechtlich). Die Zweiteilung funktioniert also nicht so, wie sie sollte.
Außerdem etwas abstrakter gedacht: die Idee des „Sex/Gender“-Modells fußt auf derselben Gegenüberstellung wie „Natur/Kultur“, „Körper/Seele“, „Vernunft/Gefühl“. Eine Art zu denken, die sich Dualismus nennt und die von Feminist:innen eher abgelehnt wird, weil sie oft dazu benutzt wird, Frauen und andere marginalisierte Gruppen zu unterdrücken.
Zu guter Letzt haben neuere Erkenntnisse der Psychologie und Soziologie gezeigt, dass Gender mehr ist als ein Haufen einengender Normen. Kinder haben von klein auf eine eigene Geschlechtsidentität, die sie oft stark spüren und ausdrücken und die sich nicht allein durch Umwelteinflüsse erklären lässt. Und Geschlechtsidentität kann, genau wie das biologische Geschlecht, aus dem zweigeteilten Muster herausfallen.
 
Um es kurz zu fassen: Geschlecht ist kompliziert. Es hat biologische, gesellschaftliche, kulturelle und psychologische Aspekte, die wahrscheinlich alle irgendwie miteinander interagieren.
Die Hauptsache ist, für Freiheit und Gerechtigkeit für Alle zu kämpfen.