Beziehungsanarchie: Regeln und Freiheit

Newsletterinput #5 vom 26. September 2020
 
Zwischenmenschliche Beziehungen führen wir alle in unserem Leben – seien es Freund*innenschaften, romantische Beziehungen oder familiäre Bindungen. Für alle diese Beziehungen, besonders aber für romantische, gibt es gesellschaftlich anerkannte Normen, die sich in Erwartungen der Partner*innen aneinander, sowie durch externe Personen, aber auch durch das Verhalten innerhalb einer solchen Beziehung äußern. Dazu gehören Vorstellungen darüber, wer wen zum Essen einlädt, wer „den ersten Schritt“ macht, wie viele Personen an einer romantischen Beziehung beteiligt sind, welches zugeschriebene Geschlecht diese Personen haben sollten und so weiter und so fort. All diese Vorstellung haben uns geprägt und beeinflussen unsere Haltung und Kommunikation in und über romantische Beziehungen.
Beziehungsanarchie ist eine bestimmte Haltung gegenüber (romantischen) Beziehungen, die auf dem Bewusstsein aufbaut, dass die gesellschaftlichen Normen uns zwar geprägt haben, aber nicht zwingend unseren eigenen Wünschen, Vorstellungen und Bedürfnissen entsprechen. Daher gilt es, diese „Herrschaft“ der Normen über unsere Beziehungen abzulehnen und zu überwinden, in dem wir für jede Beziehung, die wir führen, gemeinsam eigene Regeln machen und diese immer wieder an unsere gemeinsame oder jeweilige Entwicklung anpassen. Beziehungsanarchie versteht romantische Beziehungen nicht als einen vorgefertigten, standardisierten Ablaufplan, sondern als dynamische Begegnungen von Menschen, die gewisse Bereiche oder Abschnitte ihres Lebens miteinander teilen wollen. Wie lange das geschieht, was genau dabei geteilt wird oder mit wie vielen Personen überhaupt so eine Bindung aufgebaut wird, entscheidet jede Person für sich und alle an der Beziehung beteiligten Personen auch gemeinsam.
All das funktioniert nur dann, wenn wir uns genug Zeit für uns selbst nehmen, unsere Bedürfnisse erkennen, herausfinden, was wir brauchen und dieses Wissen mit unseren Lieben teilen. Wenn wir uns darauf einlassen, Menschen nicht mit vorgeschriebener Erwartungshaltung sondern bedürfnisorientiert zu begegnen, dann bekommen wir neben dem Gefühl von Sicherheit, was intime Bindungen mit sich bringen, auch ein neues Gefühl von Freiheit, da wir unsere Bedürfnisse (wie zum Beispiel sexuellen Kontakt zu mehr als einer Person, mehr Zeit alleine als mit den Bezugspersonen zu verbringen, Freund*innenschaften genau so viel Liebe und Beachtung widmen wie den romantischen Bezugsmenschen etc.) nicht mehr zugunsten der gesellschaftlichen Vorstellung von Normalität ignorieren.
Dazu gehört auch, dass wir uns immer wieder hinterfragen, warum wir den ständigen Druck verspüren, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu labeln: Partner*innenschaft, Freund*innenschaft+, sex buddies, „nur“ Freund*innen – diese Labels entsprechen irgendeiner Definition, die wir im seltensten Falle selbst festgelegt haben und daher auch selten genau auf unsere Beziehungen zutreffen. Sie drücken ein „entweder-oder“-Denken aus, was unsere Chancen einschränkt, eigene Definitionen zu finden oder uns zu entscheiden, dass wir (jetzt/vielleicht/noch) keine Definition brauchen.
Wie vielleicht schon deutlich wird, bedeutet Beziehungsanarchie, kommunikationsbereit zu sein und klärende Gespräche (in Form von Selbstreflektion oder mit Bezugspersonen) immer und überall zu suchen und zu führen. Nur wenn wir miteinander reden, uns mitteilen, den anderen aufmerksam zuhören und unsere eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten dabei berücksichtigen, können wir einander und uns selbst ermöglichen, Beziehungen zu führen, in denen wir uns sicher aufgehoben und frei zu lieben fühlen, wen und wie wir wollen!
Kommunikationsbereitschaft heißt auch, bereit zu sein, emotionale Arbeit zu übernehmen. Das Thematisieren von Gefühlen, Bedürfnissen, Dynamiken innerhalb von Beziehungen wird traditionell weiblichen* Menschen zugeschrieben. Sie sind es, die die Beziehung am Leben halten, die für Aussprachen, Unterstützung und Geborgenheit sorgen (sollen). Dass Beziehungen aber nur gleichberechtigt und für alle von Freiheit geprägt sein können, wenn auch alle Beteiligten sich entsprechend selbst reflektieren und in die emotionale Arbeit einbringen, ist eine wichtige Erkenntnis und ein manchmal schwieriger Lernprozess. Doch es lohnt sich!
Nicht zu vergessen sind allerdings auch die Beziehungen jenseits der Romantik: Freund*innenschaften, (Wahl-)Familie – diese Beziehungen werden traditionell geringer wertgeschätzt als romantische. Denn sie bieten angeblich weniger Geborgenheit, weniger Intimität, weniger Verlässlichkeit. Dass aber gerade die Menschen, zu denen wir keine (konstante) romantische Beziehung führen, uns oft länger im Leben begleiten und uns engere Vertraute sind als unsere romantischen Bezugspersonen, wird bei diesem Urteil nicht anerkannt. Doch um einem „entweder-oder“ entgegenzuwirken, beinhaltet Beziehungsanarchie einen wertschätzenden und liebevollen Umgang mit all den Menschen, die in unserem Leben eine Rolle spielen – unabhängig von dem gesellschaftlichen Label, das diesen Beziehungen aufgedrückt wird.
Also lasst uns den Menschen Aufmerksamkeit und Liebe schenken, die uns wichtig sind. Verbringen wir Zeit mit ALL unseren Lieben und teilen ihnen mit, wie viel sie uns bedeuten!