Autist*in ist nicht gleich Autist*in – Ein persönlicher Erfahrungsbericht von Kichererbse 

Newsletterinput #10 vom 01. März 2021
 
Jeder hat ein ungefähres Bild von Autismus, oder wie es heutzutage von Psycholog*innen genannt wird, der Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Die am häufigsten auftretende Art ist der sogenannte Asperger-Autismus, trotzdem umfasst  die ASS Diagnose ein weites Spektrum mit sehr verschieden gradigen Beeinträchtigungen der Person. 
Nun, wie stellt man sich denn einen autistischen Menschen in der Regel vor. Irgendwie so ein Mathe-Nerd? Auf jeden Fall jemanden, der irgendwie Probleme in sozialen Interaktionen hat, wahrscheinlich ist die Person männlich und trägt eine Brille? Es gibt zwar sicherlich Personen, die in dieses Bild passen, das ist aber nicht unbedingt ein akkurates Bild der meisten Autist*innen. Schon allein das Stereotyp, dass es hauptsächlich Männer betreffe, ist eine veraltete Denkweise. 
Denn wenn man weiblichen Geschlechts ist, hat man auf dem Weg zur Diagnose oft  noch ein paar extra Steine auf den Weg gelegt bekommen. Statistisch gesehen werden laut neuen Forschungen Mädchen bzw. Frauen oft nicht diagnostiziert, da die am meisten bekannten Symptome sehr männlich spezifisch sind. Was daran liegt, dass Autismus früher fast ausschließlich an Jungen erforscht wurde. Viele mögliche Anzeichen von Autismus, von denen Eltern hören, sind daher sehr auf das männliche Verhaltensmuster ausgelegt.
 
Bei Mädchen zeigt sich aber laut diverser Forschungen, dass diese zum Beispiel besser darin sind, ihre Schwierigkeiten bei sozialen Interaktionen zu verstecken und oft ihr gegenüber imitieren und so nicht auffallen. Dieses Verstecken der Probleme nennt man masking. Dazu kommt dann noch hinzu, das es bei jungen Mädchen als relativ normal angenommen wird, dass sie zum Beispiel verrückt nach Pferden sind und dieses Hobby ihren gesamten Alltag einnimmt, ohne, dass dies vielleicht als Spezialinteresse eines/r Autisten/Autistin gedeutet würde. Durch Sachen wie diese fallen weibliche Autistinnen oft ungesehen durch das System und werden erst Jahre später als Erwachsene diagnostiziert und können sich so erst dann endlich zusammenreimen, warum sie oft Probleme hatten und nun verspätet auch  an Ressourcen und Hilfestellungen kommen.  
 
Generell ist es schwer im Erwachsenenalter eine Autismus Diagnose zu bekommen. Die meisten Zentren sind fast ausschließlich auf Kleinkinder spezialisiert. Dann überhaupt Diagnosegespräche zu erhalten, ist zusätzlich viel Papierkram und bringt persönliche Evaluationen von Leuten mit sich, die nicht einmal Expert*innen auf dem Gebiet sind. 
Um in meinem Fall von der  Stadt Trier  die Diagnosegespräche bewilligt zu bekommen, musste ich vor einem Psychiater des Gesundheitsamtes vorsprechen, der dann entscheiden sollte, ob ich als mögliche Autistin in Frage kommen würde. Ganz ungeachtet davon, dass ich bereits ein Schreiben eines Psychiaters von Verdacht auf Autismus vorlegen musste, um überhaupt erst an die nötigen Papiere für die Beantragung zu kommen. 
Bei diesem Gespräch wurde dann eine so extrem stereotype Liste an Fragen abgearbeitet, dass man sich gar nicht ernst genommen fühlen konnte. Sammle ich vielleicht irgendwas? Sowas wie Briefmarken? Spezielles Interesse an Mathe oder vielleicht sogar Zügen? Für mich war dann das negativ Highlight, als ich auf die Frage, ob ich viele Freund*innen in der Schule hatte, geantwortet habe, dass ich eigentlich bis jetzt stets ein oder zwei Freund*innen hatte, aber nie eine wirklich größere Gruppe. Darauf bekam ich als Antwort, dass Autist*innen ja eher in der Schule gemobbt würden und keine Freund*innen hätten. 
 
Meiner Erfahrung nach haben viele beim Gedanken an einen autistischen Menschen eine sehr stereotypische Vorstellung im Kopf. Oder noch schlimmer, eine schlechte Abbildung durch Filme wie “Rain Man”, die von Autist*innen sehr kritisch betrachtet werden, da sie ein verzerrtes Bild wiedergeben
Autismus ist nicht gleich Autismus. Es ist ein weites Spektrum, jeder liegt irgendwo anders auf der Skala und hat mehr oder weniger Probleme mit den verschiedensten Sachen. Was aber durchweg gleich bleibt: auch Autist*innen sind individuell. Klar gibt es auch viele Gemeinsamkeiten zwischen Autist*innen, aber nicht jede*r sammelt Briefmarken (oder überhaupt irgendwas), Spezialinteressen können die verschiedensten Sachen sein, sich über die Zeiten hinweg immer wieder ändern, und manche haben auch gar keine. Schon gar nicht lässt sich bestimmen ob man Autist*in ist oder nicht, in dem man bewertet, ob man denn genügend gemobbt wurde in seiner Schulzeit. Denn wer Autist ist, der ist immer noch eine individuelle Person und keine Liste von Stereotypen auf Wikipedia.