AD(H)S: eine „männliche“ Diagnose?

Newsletterinput #9 vom 29. Januar 2021
 
Im ersten Newsletter des neuen Jahres möchte ich einen einen kurzen Input zu Neurodiversität bei Mädchen, beziehungsweise weiblich-sozialisierten Menschen geben. Entwicklungsstörungen wie AD(H)S und Autismus werden bei diesen oft nicht erkannt, unterdiagnostiziert oder oft erst im Erwachsenenalter festgestellt. 
 
Bevor ich darauf aber weiter eingehe möchte ich kurz die wichtigsten Begriffe erklären. Als neurodivers versteht man Menschen, die neurobiologisch anders, beziehungsweise ‚atypisch‘ sind. Darunter fallen Menschen mit Autismus und AD(H)S, aber auch Lese-Rechtschreib-Schwäche ist zum Beispiel eine Form von Neurodiversität. Da mein Input sich hauptsächlich mit AD(H)S beschäftigt, umreiße ich mal ganz grob das ‚Krankheits’bild. 
Bei AD(H)S ist drin, was im Namen steckt, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Aufmerksamkeitsdefizit bedeutet, dass Menschen große Schwierigkeiten haben sich zu fokussieren, sehr leicht ablenkbar sind, Gedanken sprunghaft und die Zusammenhänge für Gesprächspartner*innen oft nicht verständlich sind. Mensch ist auch vergesslich, verträumt und unorganisiert und hat kaum Impulskontrolle. Die Störung kann auch ohne die Hyperaktivität auftreten und heißt dann nur ADS, deswegen benutze ich hier immer die Klammern um das H. 
In einem zukünftigen Input möchte eine Freundin über Autismus berichten. 
 
Auch möchte ich anmerken, dass ich das Wort Mädchen der Einfachheit halber im cisnormativen Sinn verwende, also Menschen, die nach der Geburt dem weiblichen Geschlecht zugewiesen wurden. Natürlich betreffen die folgenden Probleme auch transmaskuline Kinder, diese werden aber natürlich erstmal von ihren Eltern, Lehrer*innen und Ärzt*innen als weiblich wahrgenommen. 
 
In Deutschland wird AD(H)S bei Jungen viermal so häufig diagnostiziert, wie bei Mädchen. Anzunehmen, dass es einfach eine Störung ist, die hauptsächlich Jungen betrifft, wäre scheiße. Die Forschung bietet verschiedene Erklärungsansätze, darunter der, dass AD(H)S sich bei Mädchen teils durch Sozialisierung anders äußert und deswegen übersehen und unterdiagnostiziert wird.  
 
In der CBC-Dokumentation ADHD: Not Just For Kids beschreibt Dr. Mayer Hoffer den „klassischen Fall von AD(H)S“ nicht als einen Jungen, der durch schlechte Noten und springenden Launen und Gezappel auffällt, sondern eine 19-jährige Studentin, bei der das erste Mal alles den Bach runtergeht, jetzt da sie nicht mehr die Struktur durch die Schule und Eltern hat, und als sie psychiatrische Hilfe sucht, bekommt sie die Diagnose Depression, ohne weitere Nachforschung, woher diese kommt.
 
Dr. Patricia O. Quinn, Direktorin des National Center for Gender Issues and ADHD in Washington DC, USA, beschreibt AD(H)S in Mädchen als (ein) ‚hidden disorder‘, eine versteckte Störung, und nennt es auch ‚silent ADHD‚, stille AD(H)S. Sie erklärt, basierend auf Forschung aus den 90ern (!), wie AD(H)S sich oft bei Mädchen anders, als bei Jungen äußern kann. 
 
Durch Sozialisierung sind Mädchen früh einem Druck ausgesetzt, sich klein, passiv und still zu verhalten, dem Umfeld achtsam und nicht laut und aggressiv zu sein. Also stecken Mädchen mit AD(H)S sehr viel Energie dahinein, nach außen normal zu wirken, nicht negativ aufzufallen und schulischen und elterlichen Erwartungen gerecht zu werden. Auch sind die Symptome des Aufmerksamkeitsdefizits wie Vergesslichkeit, Ablenkbarkeit und Verträumtheit ausgeprägter bei Mädchen, als die disruptiven und auffälligen Symptome verbunden mit Hyperaktivität, die mit Jungen assoziiert sind und dadurch als Standardsymptome von AD(H)S angesehen werden. 
Zudem kommt es häufiger vor, dass sich bei Mädchen Hyperaktivität im Reden und emotionaler Reaktivität äußert, statt in motorischer Bewegung. Quasselstrippen werden gesellschaftlich als etwas „typisch weibliches“ gesehen, was also nicht so sehr auffällt, wie ein Zappelphillip und Klassenclown. Sekundär, beziehungsweise komorbid auftretende Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, aber auch geringes Selbstwertgefühl und Gefühle der Scham werden als Haupterkrankung fehldiagnostiziert und AD(H)S als die Ursache dafür nicht erkannt. 
Es lässt sich also sagen, dass teilweise durch Sozialisierung die Störung besser ‚maskiert‘ wird und dass auch im Allgemeinwissen der Stereotyp eines Kindes mit AD(H)S immer noch auf dem männlichen Krankheitsbild basiert, weswegen eben vorrangig Jungen den Erwachsenen in ihrem Umfeld auffallen und an Psychiater*innen weitergeleitet werden. 
 
Aus diesen Gründen fallen viele Mädchen durch das Raster. Erst wenn die Ansprüche steigen, zum Beispiel am Arbeitsplatz oder in der Ausbildung oder Studium, also der ohnehin schon extreme Aufwand, Normalität aufrechtzuerhalten, noch größer wird, schlagen die bisherigen Coping-Methoden fehl und mensch sozusagen unter dem Druck zusammenbricht. Studium oder Ausbildung werden abgebrochen, Jobs werden häufig gewechselt, Beziehungen schlagen fehl.
Das ist zwar nur eine Anekdote, aber meine Mutter ist ein Paradebeispiel dafür. Erst als ihre zweite Ehe in die Brüche ging und sie sich in psychiatrische Behandlung begeben hat, wurde bei ihr im Alter von 47 Jahren ADHS festgestellt. 
 
Auch sind die Diagnosekriterien trotz des Forschungsstands immer noch auf das typisch männliche Krankheitsbild ausgelegt. In den Diagnosebögen wird gefragt, ob mensch sich als Kind viel geprügelt hat, ob es Probleme mit Autoritätspersonen gab, und ob mensch schlecht in der Schule war. Ein abgeschlossenes Abitur gilt als Ausschlusskriterium, obwohl die Forschung schon längst bestätigt hat, dass es bei Frauen mit AD(H)S eher die Regel ist, einen Schulabschluss zu schaffen. Die Tatsache, dass trotz über 20 Jahre langer Forschung zu den geschlechtsspezifischen Unterschieden, mehrere Psychiater*innen und Psycholog*innen zu mir „Aber Sie haben doch Abitur“ gesagt haben, die Tatsache, dass in den Diagnosebögen diese ‚weiblichen‘ Symptome nicht abgefragt wurden, finde ich ehrlich schockierend. Es werden also auch erwachsenen Frauen*, die sich Hilfe und eine Erklärung erhoffen, noch einige Steine in den Weg gelegt. 
 
 Ganz ähnlich sieht es mit Diagnosekriterien für Autismus aus. Dazu aber mehr in einem anderen Input. 
 
Abschließend möchte ich sagen, dass AD(H)S und Autismus zwar als Störungen kategorisiert sind, und rechtlich als eine Behinderung eingestuft werden können, mensch würde aber unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen „unbehindert“ funktionieren können. Neurodiversität als Überbegriff und Bewegung will sich der Klassifizierung als Störung von einem solchen natürlichen neurobiologischen Anders-Sein entgegensetzen. Wie es momentan aber aussieht, braucht mensch vielleicht einfach Unterstützung, um in diesem System zu funktionieren und auch einfach ein Papier, auf dem steht, dass mensch eine Behinderung hat, regelt schon einiges. Da zum Beispiel Arbeitgeber*innen oder die Universität dann darauf Rücksicht nehmen müssen.